Der Krimi-Roman wurde 2008 mit dem Jiri-Marek-Preis für den besten Krimi des Jahres ausgezeichnet. In einem Waldpark im noblen Prager Viertel Baba passiert ein Mord. Die Journalistin Julie ist die Letzte, die mit dem Opfer gesprochen hat…
DER ABSCHNITT:
In der Nacht, bevor im Park am Ende der Krokus-Straße das ermordete Mädchen gefunden wurde, konnte Julie Kellerová nicht einschlafen. Es war so still, dass sie ganz deutlich die Uhr am Turm von St. Matthes schlagen hören konnte. Die kleine Kirche war nur etwas über einen Kilometer von ihrem Haus entfernt. Tagsüber ging der Klang der Glocke aber für gewöhnlich im Lärm der vierspurigen Straße unter, die das Villenviertel halbkreisförmig umschloss. Soweit es möglich war, mied Julie laute Kommunikation. Sie mochte die Großstadt nicht, ihre Gerüche, die Anonymität, die mit Abfall übersäten Straßen. Aber sie war in der Stadt zur Welt gekommen und atmete die mit Smog verseuchte Luft schon 54 Jahre lang – ohne den Mut zu einer solch radikalen Veränderung zu fassen, wie sie der Wegzug aufs Land bedeutete.
Vielleicht war sie aus Prag vor allem wegen ihres Hauses in Dejvice nicht weggegangen. Es stand auf einem Hügel namens Baba. Nach der Scheidung war ihr die Villa vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts geblieben. Mit ihrem abgeplatzten grauen Putz und einem Balkon, der schon seit Jahren abzustürzen drohte. Das Haus war vernachlässigt und gehörte entschieden nicht zu den architektonischen Kostbarkeiten, derentwegen Touristen das prestigeträchtige Villenviertel besuchten. Julie schätzte dennoch die leicht geheimnisvolle Atmosphäre, die die steinerne Treppe verbreitete; von einem ziemlich zugewachsenen geschotterten Fußweg, der sich durch den Garten hinter dem Haus schlängelte, der voller sprießenden Grüns war und schon mehrere Jahre nicht mehr die Hand eines Gärtners gespürt hatte, führten die Stufen hinauf zu der hölzernen Eingangstür mit Glaseinsatz. Genau solch einen Garten hatte Julie immer schon haben wollen, aber lange Zeit konnte sie sich ihn nicht erlauben. Zumindest nicht, solange sie zusammen mit ihrem Mann in den Haus lebte. Ludvík lief nahezu täglich um das Haus herum mit dem Rasenmäher oder der Gartenschere in der Hand – wie ein selbsternannter Gartenbauarchitekt. Alle Linien des lebenden Zauns mussten präzise geschnitten sein, die Perfektion des englischen Rasens durfte nicht durch einen einzigen Löwenzahn verschandelt werden. Sobald Ludvík ein einzelnes Gänseblümchen entdeckte, entfernte er es vorsichtig mit seinem Taschenmesser. Er war besessen von Ordnung und Disziplin – Werte, die Julie völlig fremd waren. Seit der Scheidung ruhte die Heckenschere im Gartenhaus und Julie verfolgte mit Genuss, wie sich die Natur Raum griff, wie sie ihre Greifer ausstreckte in alle Richtungen und die (keineswegs originellen) Einfälle ihres Mannes zu ihrem Bild umformte.
Im Herbst erinnerte sie die Aussicht aus dem Küchenfenster an ein impressionistisches Gemälde. Die schweren Äste der verwachsenen Büsche neigten sich dem Boden zu und die Blätter umspielten sie mit Dutzenden von Schattierungen der Farben Grün, Braun und Gelb. Das Laub rieselte ins hohe Gras, von wo es niemand zusammenrechte und wo es verrottete, solang es nicht vom Schnee bedeckt wurde. Wenn Julie die Augen zukniff, konnte sie nicht auseinanderhalten, wo die Büsche enden und der Rasen beginnt. Am Stamm des alten Apfelbaums wand sich Efeu empor, die gebogenen Äste des Hagebutten-Strauchs tauchten mit ihren Spitzen in das buschige Riedgras. Sie begriff nicht, wie jemand einem auf fünf Zentimeter getrimmten Rasen und mit der Schere verunstalteten Büschen den Vorzug geben konnte. Wo nehmen die Leute die Frechheit her, ihre Vorstellungen der Natur aufzuzwingen, die sie hervorgebracht hat? Julie liebte ihren wild sprießenden Garten von ganzem Herzen. Jedes Mal, wenn Gefühle der Enge sie überschwemmten oder böse Erinnerungen zurückkehrten, beruhigte sie sich mit einem Blick auf die breite Skala von Grün und Braun vor ihren Fenstern. Auch jetzt erhob sie sich aus dem Bett, ging im Dunkeln zum Fenster und blickte wohlgefällig in die Wildnis. Die Glocke von St. Matthes hatte gerade halb zwei morgens geschlagen.
Und dann sah sie es. Eine blitzartige Bewegung zwischen zwei Büschen, angestrahlt vom Mondlicht. Die menschliche Silhouette erstarrte für einen Augenblick und in der nächsten Sekunde verschwand sie im Schatten. Julie zuckte zusammen. Sie versuchte, den Blick in die Dunkelheit scharf zu stellen. Irgendjemand ist in ihrem Garten. Wer? Was sucht er da? Ihr Magen verkrampfte sich vor Angst. Sie fürchtete nicht um sich, schließlich war sie in ihrem Haus eingeschlossen und an den Fenstern waren Gitter. Sie machte sich Sorgen um die Katzen. Sie hielt insgesamt zwölf von ihnen und liebte sie mit einer so heftigen, uneigennützigen Liebe, wie sie sie -und das gab sie nur ungern zu- ihrem Mann gegenüber und vielleicht auch ihren Kindern gegenüber nie verspürt hatte. Sie hatte erfahren, dass sie manche Nachbarn wegen ihrer Tierhaltung schlecht über sie redeten. Seit der Scheidung hatte sie den Ruf einer Eigenbrötlerin, die lieber Tiere mochte als Menschen. Sie hatte allerdings nicht vor, etwas an ihrem Leben zu ändern. Letztendlich hat sie ein Recht auf unkonventionelle Hobbys – nach all den immer wiederkehrenden Auf und Abs, durch die sie gegangen war.
Um ihren Unterschenkel strich das seidene Fell des rothaarigen Katers „Herr Minister“. Vor vier Jahren – kurz nach ihrer Scheidung – kam er zur Tür hinein und ersetzte Ludvík Keller sehr schnell in der Rolle des Hausherrn. Er hatte einen weisen Blick und Julie ertappte sich viele Male dabei, ihm menschliche Eigenschaften zuzusprechen. Jedesmal wenn sie mit Ängsten oder der Melancholie zu kämpfen hatte, kam „Herr Minister“ vorbei, so als ob er sie trösten wollte. Er kam auch jetzt eilig daher und forderte durch lautes Schnurren ihre Aufmerksamkeit ein.
Aber sie hatte keine Zeit für Zärtlichkeiten. Julie schob den Kater sanft von sich, öffnete das Fenster und beugte sich hinaus in die Nacht. Sie erschauerte. Die zweite Oktoberhälfte war angebrochen, und obwohl die Sonne schien wie im Sommer, sank die Temperatur nach Einbruch der Dunkelheit in Richtung Gefrierpunkt. Ein sanfter Windstoß ließ die Blätter des Apfelbaums rascheln, ansonsten war es still. Julie strengte ihre Ohren an, aber sie hörte weder das Geräusch von Schritten noch irgendwelche anderen verdächtigen Laute. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Es gibt keinen Grund zur Panik.
In der Dunkelheit hatte sie Angst, allein hinaus zu gehen. Und so entschied sie sich, die Morgendämmerung abzuwarten – dann würde sie gehen und den Garten kontrollieren. Sie schloss das Fenster wieder und in einem plötzlichen Anflug von Angst zog sie den Vorhang zu. Normalerweise wollte sie aus allen Fenstern den Himmel sehen, aber jetzt wurde sie das Gefühl nicht los, dass der Eindringling sie von außen beobachtete, wenn sie im Haus das Licht anmachte. Es hatte keinen Sinn zu versuchen, erneut einzuschlafen. Sie warf den Bademantel über ihre Schultern, schaltete den Wasserkocher ein und gab zwei volle Teelöffel löslichen Kaffee in die Tasse. Selbstverständlich konnte sie die Polizei rufen. Aber was würde sie denen sagen? Sie hatte keinen Beweis, dass sich in ihrem Garten ein Fremder bewegte; nicht mal sie selber war sich sicher.
Dies war eine der wenigen Situationen, in der sie bedauerte, dass sie alleine lebt. Wenn oben im Schafzimmer Klára oder Michal schlafen würden, hätte sie sie aufgeweckt und sie wären gemeinsam nach draußen gegangen. Aber nicht eines ihrer erwachsenen Kinder wollte mit ihr unter einem Dach leben.
Sie schüttelte den Kopf, um die unangenehmen Gedanken zu vertreiben. Es hatte keinen Sinn, in der Vergangenheit zu wühlen und sich zu fragen, warum sie als Ehefrau und Mutter versagt hatte. Sie setzte sich an den Küchentisch, schlürfte an ihrem Kaffee und zuckte bei jedem kleinsten Geräusch zusammen. Immer war es nur ein unerwarteter Schreck. Julie wusste, dass das Haus alt ist und sich aus seinem Innern immer wieder mal ein Knarzen und Stöhnen vernehmen ließ, vor dem sie keine Angst haben musste. Um sechs Uhr beschloss sie, dass es draußen hell genug war, dass sie es wagen konnte, ihr Grundstück zu durchsuchen. Erneut öffnete sie das Fester und sah hinaus. Im Garten herrschte eine unbewegliche Stille – typisch für den Moment des Sonnenaufgangs. Die Luft war eisig und die Büsche wirkten im weichen Morgenlicht wie Kulissen in dem Theaterstück Dornröschen. Julie zog ihre Stiefel an, mit der einen Hand griff sie sich eine Dose mit Katzenfutter und mit der anderen die schwere metallene Taschenlampe. Ursprünglich wollte sich mit dem Laubrechen bewaffnen, aber sie mochte die Vorstellung nicht, dass sie einer der Nachbarn so sehen könnte. Die Taschenlampe war unauffälliger und Falle eines Falles taugte sie auch als Waffe.
Sie nahm auch das Tütchen mit den Tier-Vitaminen mit, die sie über das Internet bestellt hatte und die ihr die Angestellte des Online-Ladens gestern Abend bis nach Hause gefahren hatte. Eine nützliche Dienstleistung, dachte Julie. Vielleicht könnte sie auf diese Art sämtliche Haustier-Artikel einkaufen; sie kämen sie so auch billiger und Julie gab ungern unnötig viel Geld aus. Auf der anderen Seite kam es ihr riskant vor, unbekannten Menschen, die die Waren zustellten, die Tür zu öffnen. Gestern war sie erleichtert gewesen, als eine junge Frau die Vitamine brachte – und kein Mann. Immerhin lebt sie allein und muss auf der Hut sein vor Betrügern.
Sie trat hinaus und ging langsam zwischen den Büschen hindurch. Das Gras in der Mitte des Gartens war etwas zusammengefallen – wie wenn jemand die Grashalme niedergetreten hätte. Hätte sie das gewesen sein können, als sie gestern Abend die Katzen gefüttert hatte? Schwerlich – denn meist benutzte sie den geschotterten Weg. Jetzt füllte sie das Fleisch aus der Konserve in die Plastikschüsseln in der einen Ecke des Gartens und ließ frisches Wasser aus dem Hahn an der Innenseite des Hauses in einen alten Topf ein. Leise rief sie und in der nächsten Sekunde begannen sich ihr durch das hohe Gras ihre Schützlinge zu nähern.
Selten kamen schon nach einmal Rufen alle zwölf Tiere angelaufen. Die Kater trieben sich herum und kehrten erst nach zwei oder drei Tagen nach Hause zurück. Julie war dennoch beunruhigt, als sie nur elf Katzen zählte. Sie wusste nicht, wovor sie tatsächlich Angst hatte, aber eine böse Ahnung stieg in ihr auf. Vielleicht hatte es irgend etwas zu tun mit dem Gespräch, das sie neulich mit Jana Jahodová aus dem Nachbarhaus geführt hatte. Die konnte es nicht ausstehen, dass Julies Katzen auf ihrem englischen Rasen ihr Geschäft verrichten und sich ab und zu in ihrer Gartenschaukel schlafen legen. Die größte Unverschämtheit leistete sich „Herr Minister“, als er vor einer Woche durch das französische Fenster in die Villa der Jahodas eindrang, ins Schlafzimmer vordrang und sich mit einer würdevollen Selbstverständlichkeit im Ehebett einkuschelte.
„Ich bin ein toleranter Mensch, aber dass ein fremder Kater in meinem Bett pennt, das ist zuviel!“ schrie Juraj Jahoda vom Balkon, während Julie am Wasserhahn die Katzen-Schälchen auswusch und vorgab, nicht zu ahnen, wessen Tier so furchtbare Schuld auf sich geladen hatte.
Am folgenden Morgen trat Jana Jahodová genau in dem Moment aus dem Haus, als Julie zur Bäckerei wollte, um frische Brötchen zu holen.
„Das Wetter wird heute wunderschön“, zwitscherte Jana und passte ihre Schrittgeschwindigkeit der von Julie an. Sie war eine korpulente 45-Jährige, ehemals erfolgreiche Managerin, die ihre Alkohol-Sucht und Abhängigkeit von Aufputschmitteln zunächst bis auf den Gipfel katapultierten , dann aber in kurzer Zeit beruflich abstürzen ließen – auch ihr guter Ruf blieb dabei auf der Strecke. Julie wusste, dass ihre Nachbarin schon seit drei Jahren arbeitslos war, sich durch ihren unternehmerisch tätigen Mann aushalten ließ und die Gefühle von Überflüssigkeit in Flaschen voll billigem Wermut ertränkte. Sie bedauerte sie, aber sie hatte kein Mitleid mit ihr. Obwohl sie fast zwanzig Jahre nebeneinander wohnten, hatten sie sich nicht angefreundet und hatten auch nie aufgehört, sich zu siezen.
„Am Nachmittag soll es bis zu zwanzig Grad werden. Das ist für Mitte Oktober richtig viel“, antwortete Julie bedächtig und ließ ihren Blick kurz auf Janas schwarzen Pumps gerichtet. Ohne Zweifel hatten sie irgendwann einmal viel Geld gekostet, aber jetzt waren sie schmuddelig und hatten abgetretene Spitzen. Seit Jana „auf freien Fuß“ gekommen war, wie sie selbst ihre Arbeitslosigkeit vornehm bezeichnete, hatte sie aufgehört, auf ihr Äußeres zu achten. Manchmal roch sie sogar leicht nach Schweiß. Julie wandte sich von ihr ab. Sie mochte es nicht, wenn jemand Fremdes dich an ihrer Seite ging und sie dabei sogar flüchtig berührte. Außerdem erwartete sie Schwierigkeiten und täuschte sich nicht. „Hören Sie, wir sind doch immer gut ausgekommen miteinander, oder? Ich mag Sie, Julie. Sie sind eine sehr liebe Frau. Nur ihre Katzen stören mich. Sie müssen sie beseitigen!“, verkündete Jana. Obwohl es sieben Uhr früh war, roch ihr Atem kaum merklich nach Wermut.
„Ich verstehe nicht. Es sind meine Katzen und ich halte sie auf meinem privaten Grundstück.“
„Julie, wachen Sie auf. Seit Ludvík ausgezogen ist, verhalten Sie sich … merkwürdig. Ich liebe Tiere, das ja … selbstverständlich, aber was zuviel ist, ist zuviel. Ihre Katzen tauchen ununterbrochen in unserem Garten auf. Sie streunen um die Garage herum. Wenn ich mit dem Auto komme, graust es mir, weil ich denke, ich überfahre mal eine. Ich bin ein sensibler Mensch, Julie. Ich würde den Anblick einer toten Katze nicht ertragen!“
Julie warf ihr einen scharfen Blick zu. Jana kam ihr keineswegs sensibel vor. „Ich gebe sie nicht weg. Ausgeschlossen.“
„Ach Gott, warum denn dieser barsche Ton? Ich liebe Tiere wirklich, Julie. Es geht mir um ihr Wohl. Ich verstehe, dass Sie sich mit etwas beschäftigen mussten, als beide Kinder so früh von zu Hause weggegangen sind. Wahrscheinlich sind Sie einsam, aber …“ Sie brachte den Satz nicht zu Ende und war Julie einen bösartigen Blick zu. Sie wusste, dass sie sie ins Innerste getroffen hatte.
„Ich bin nicht einsam! Es macht mir nichts aus, dass Klara mit Michal weggezogen sind. Jedes Kind verlässt doch einmal das Nest und meine haben das einfach ein paar Jahre früher getan als andere. Die Katzen haben damit nichts zu tun“, antwortete Julie, aber sie wusste gleichzeitig, wie unehrlich das klingt.
„Wie Sie meinen. Ich finde es nicht normal, wenn jemand in der Stadt lebt und so viele Tiere hält, wie Sie.“ Jana berührte sie am Unterarm. „Jede ihrer Katzen würde einen anderen Besitzer verdienen, der sich ihr maximal widmet. Im Tierheim würde es ihnen nicht schlecht gehen und mit der Zeit würde sie irgendein guter Mensch zu sich nehmen. Um Ihnen zu helfen, habe ich beim Tierschutzverein angerufen, ob die Ihre Katzen nicht in Quarantäne nehmen könnten. Natürlich haben sie das erstmal abgelehnt, aber als ich ihnen vorgemacht habe, ich sein eine einflussreiche Person mit Kontakten zum Umweltministerium …“ sie legte eine Bedeutsamkeit erzeugende Pause ein, „ … da waren sie einverstanden, dass sie kommen und sie einfangen. Sie werden sie impfen, entwurmen und danach mit der Vermittlung an neue Besitzer beginnen.“
„Machen Sie sich über mich lustig?“ fragte Julie mit Hoffnung in der Stimme.
„Natürlich mache ich mich nicht lustig. Damit Sie es wissen: die meisten Tierheime nehmen erwachsene Katzen gar nicht an – nur Katzenjunge. Sie sollten froh sein, dass ich ihnen die Abholung ausgehandelt habe. Ich rate Ihnen, beim Tierschutzverein anzurufen und sich auf mich zu berufen. Ohne Ihr Einverständnis kommen die nicht, weil Sie die Katzen auf ihrem eigenen Grundstück halten“, fügte die Nachbarin fast mitleidig hinzu. „Ich sage Ihnen was, Julie – aber das bleibt unter uns, ja? Meinem Mann sind gestern die Nerven durchgegangen. Er behauptet, dass er sich hier nicht mehr zu Hause fühlt, seit Ihre Katzen unseren Garten okkupieren. Er ist nicht so wie ich, wissen Sie? Er kann Katzen nicht ausstehen.“ Sie blickte Julie hart an. „Er hat angekündigt, sie mit Rattengift umzubringen, wenn Sie sie nicht freiwillig weggeben.“
„Sie drohen mir?“ Das war alles, was Julie zusammenbrachte. Warum ließen sie ihre Nachbarn nicht in Frieden leben? Warum konnte sie nicht mal in ihrem Garten machen, was sie wollte?
„Um Himmels Willen, warum so starke Worte? Sagen wir mal, ich warne Sie.“
Julie erschien es unwahrscheinlich, dass die Jahodas die Drohung ernst meinten. Vom Hörensagen wusste sie, dass ihre Ehe vor dem Aus stand; am ehesten hatten sie gestritten und die angetrunkene Jana lässt jetzt ihre Wut an ihr und ihren Katzen aus.
Jetzt allerdings rief sie sich jedes einzelne Wort dieser merkwürdigen Unterhaltung wieder ins Gedächtnis und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was, wenn Jana die Wahrheit gesagt hatte? War es möglich, dass der Nachbar in der Nacht auf ihr Grundstück eingedrungen war, um einen vergifteten Köder in die Futternäpfe zu werfen.
Aus der Tiefe des Gartens hörte sie ein leises, klagendes Miauen. Es dauerte eine Weile, bis sie feststellte, woher es kommt. Nach dem Ton der Katzenstimme erkannte sie, dass es schlecht stand. Sie hatte gelernt, verschiede Arten des Miauens zu unterscheiden; sie kannte den Katzengruß, Laute der Freude und auch des Schmerzes. Dies war ein Rufen um Hilfe.
Sie bog die Büsche auseinander und der Schreck lähmte sie. Einige Sekunden lang konnte sie sich nicht bewegen, nicht schreien, nicht mal atmen. Dann sog sie deutlich hörbar die kühle Luft in ihre Lunge und begann zu handeln.
Unter einem niedrig gesetzten Ast einer einzeln stehenden Silbertanne lag eine ovale Gitter-Falle, wie sie Jäger zum Fangen von Schadwild benutzen. Sie war alt und an den verrosteten Gitterstäben hingen noch verschiedenfarbige Fellflusen zuvor gefangener Tiere. Jetzt saß darin zittern Julies schwarzweißer Kater Chaplin.
Julie hatte keine Ahnung, wie sie die Falle öffnen sollte. Sie wusste nur: sie musste den Kater schnell raus bekommen. Das Tier hatte sich ein wenig beruhigt, sah sie aus weit aufgerissenen Augen an und stöhnte nur ab und zu leise. Julie rüttelte an dem zugefallenen Türchen. Ohne Erfolg. Sie brach sie zwei Fingernägel ab und kratzte sich an der rostigen Ecke der Falle die Haut auf. Dann entdeckte sie den Schnappriegel, der das Türchen fest verschlossen hielt. Ihre Finger waren so zittrig, dass sie ihn nicht sofort lockern konnte. Endlich brachte sie die Falle auf und der Kater schoss wie ein Blitz heraus. Er sah geschockt aus aber unversehrt.
Vor Erleichterung brach Julie in Tränen aus. Was wäre geschehen, wenn sie heute ausnahmsweise nicht so früh in den Garten gekommen wäre. Üblicherweise fütterte sie die Katzen erst gegen acht, nachdem sie vom Einkaufen zurück war und gefrühstückt hatte. Sie machte sich klar, welches Glück Chaplin gehabt hatte. Ohne ihre Schlaflosigkeit und ohne den Schatten, die sie Garten erblickt hatte, wäre der Kater vielleicht nach ein paar Stunden nicht mehr unter den Lebenden gewesen. Der Besitzer der Fall hätte ihn geholt und Gott weiß was mit ihm gemacht.
Wer hatte die Falle aufgestellt? Warum? Der Tierschutzverein würde mit Sicherheit auf diese Art keine Katzen fangen, die sich in einem privaten Garten befanden – noch dazu ohne Zustimmung des Besitzers.
Wenn Jahoda den Käfig aufgestellt hatte – wozu brauchte er das Tier lebend, wenn er es doch einfach vergiften konnte? Julie warf einen Blick auf die Falle, in der noch der Köder lag: ein großer, schon riechender Rinderknochen. Der friedliche Garten, den sie so liebte, erschien ihr plötzlich furchterregend. Eines war ihr klar: der Käfig, den sie gefunden hatte, würde für kein anderes Tier mehr zum Gefängnis werden. Sie könnte ihn mit einem Stein beschweren und von der Brücke aus in den Fluss werfen. Oder, wenn ihre Kräfte dafür reichten, ihn im Keller mit einem Hammer zerstören. Sie marschierte durch den Garten, die geöffnete Falle in der einen, die Taschenlampe in der anderen Hand. Wenn ihr in diesem Augenblick jemand aus der Familie Jahoda in die Quere kommen gekommen wäre, hätte sie alle Energie, die in ihrem zierlichen Körper steckte zusammengenommen, und ihm den schweren Käfig über den Kopf gezogen.
Sie wusste, dass der Besitzer die Falle holen würde. Es würde reichen, am Fenster zu stehen und zu schauen. Im besten Falle würde er schon ziemlich bald kommen …
Sie war schon fast am Eingang zum Haus, als sie unvermittelt ihren Blick in Richtung der Villa ihrer Nachbarn hob.
Am Fenster im ersten Stock stand jemand und beobachtete sie.
Kapitel 2
Veronika Jahodová hatte noch nie eine echte Leiche gesehen. Gerne sah sie sich Krimiserien an, so dass sie sich grob vorstellen konnte, wie ein ermordeter Mensch aussah. Aber in Wirklichkeit war es dann doch nochmal etwas anderes. Veronikas Magen verkrampfte sich ein wenig, aber es gelang ihr nicht, sich von dem toten Mädchen abzuwenden. Das bleiche Gesicht mit den blauen Lippen und gefletschten Zähnen zog sie in ihren Bann wie ein Magnet.
Die junge Frau lag auf der Seite im Farn. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten in den Himmel und ihre Arme waren lagen auseinandergeworfen in einer theatralischen Geste, als wenn sie völlig verwundert wäre über ihr wenig rühmliches Ende. Ein Bein lag unnatürlich abgewinkelt unter ihrem Körper, der andere Fuß, der in einem ledernen Halbschuh steckte, lehnte sich an einen Baumstumpf und unter dem hochgerutschten Bein ihrer schwarzen Leinenhose war ein milchig weißer Unterschenkel zu sehen. Von einer Eiche segelte ab und zu ein vertrocknetes Blatt auf das Mädchen herab und die durch die Baumkronen scheinende Herbstsonne erzeugte goldene, changierende Lichtreflexe auf ihrer roten Jacke. Wenn die starren Augen und die frei liegenden Zähne nicht gewesen wären, hätte der Körper einen fast schon friedlichen Eindruck gemacht. Veronikas Blick glitt auf ihm hin und her und verharrte dann an einem ziemlich roten Bluterguss auf dem dünnen Hals. Ja, das kannte sie aus den Krimiserien – das waren wahrscheinlich Würgemale. Sie besah sich also gerade das Opfer eines Mordes. Eine Mordes! An den Unterarmen bekam sie eine Gänsehaut und das kleine vertraute Wäldchen in unmittelbarer Nachbarschaft des Villenviertels kam ihr plötzlich bösartig und gefährlich vor.
Wenn sie eine Serien-Darstellerin gewesen wäre, dann wäre sie wahrscheinlich schreiend davon gelaufen oder hätte an Ort und Stelle einen Nervenzusammenbruch erlitten. Aber Veronika blieb relativ ruhig. Es überraschte sie selbst, dass sie nicht mal Angst hatte. Die Neugier überlagerte ein leichtes Unwohlsein und Veronika trat noch einen Schritt näher an den leblosen Körper. Die ermordete Frau mochte vielleicht vierundzwanzig, sechsundzwanzig sein. Ihr linkes Ohrläppchen zierten zwei kleine silberne Ringe, so wie sie auch Veronika trug. Wer mochte sie umgebracht haben? Und warum?
Im Gebüsch knackte ein Ast und Veronika richtete sich abrupt auf. Sie war erst sechzehn und hatte sich gar nicht klargemacht, in welch ernster Situation sie sich hier befand. Sie stellte sich vor, wie sie ihren Eltern, ihrem Freund, ihren Kameradinnen und der Polizei schildern würde, was sie mein morgendlichen Joggen entdeckt hatte, und statt vor Angst zitterte sie vor Erregung. Sie würde im Mittelpunkt des Interesses stehen, alle würde ihr Fragen stellen und Vater und Mutter würden sie ein paar Tage verwöhnen, so wie wenn sie krank wäre …
Erst als sie fremden Schritte hörte, begriff sie, dass sie sich vielleicht zur falschen Zeit am falschen Ort befand. Der Mörder könnte doch immer noch in der Nähe sein. Sie sollte so schnell wie möglich verschwinden!
Panik schnürte ihr die Kehle zu. Veronika drehte sich abrupt um, stolperte über einen trockenen Ast, zerriss sich an ihm ihre Jogginghose und stieß sich heftig ihr Schienbein. Leise schrie sie auf, rannte aber weiter. Sie schlug Haken um die Bäume herum, rauschte durch aufgewehte Berge trockenen Laubs und steigerte ihr Tempo, bis sie vor Erschöpfung Seitenstechen bekam. Der sonnendurchstrahlte Waldrand kam nur ziemlich langsam näher. Erst jetzt wurde ihr bewusst, was sie Schreckliches gesehen hatte und ein Weinkrampf ließ ihre Schultern erbeben. Warum war hier nirgendwo jemand? Veronika wurde klar: wenn der Mörder sie jetzt attackierte, würde niemand ihre Hilfeschreie hören. Und dann – welche Erleichterung! – ein Ehepaar mit einem Hund an der Leine betrat auf dem Fußweg den Wald.
Veronika blieb stehen, atmete stoßweise und schluckte Tränen.
„Da ist eine Leiche!“, rief sie. „Ich habe eine tote Frau gesehen! Eine tote … Frau! Sie liegt da hinten im Farn.“
Dann musste sie sich auf den Boden setzen, weil ihr die Knie weich wurden.
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